Gedichte und Texte
Hannah Ahrendt in einem Interview mit Günter Sauss 1964
„Das entscheidende ist nicht 1933, jedenfalls für mich nicht.
Das entscheidende ist der Tag gewesen an dem wir von Auschwitz
erfuhren. Das war 1943. Und erst haben wir es nicht geglaubt,
obwohl mein Mann und ich eigentlich immer glaubten, wir trauen
der Bande alles zu. Dies haben wir nicht geglaubt, auch weil es ja
gegen alle militärischen Notwendigkeiten und Bedürfnisse war.
Mein Mann ist ehemaliger Militairhistoriker und hat gesagt,
lass dir keine Geschichten einreden, das können sie nicht mehr.
Dann haben wir es ein halbes Jahr später doch geglaubt, weil es
uns bewiesen wurde. Und das ist der eigentliche Schock. Vorher hat
man sich gedacht, ja, man hat halt Feinde, das ist doch ganz natürlich.
Warum soll ein Volk keine Feinde haben, das ist eine Bande.
Aber dies ist anders, das war wirklich als ob der Abgrund sich öffnete.
Weil man irgendwie die Vorstellung gehabt hat alles andere
hätte irgendwie noch einmal gut gemacht werden können,
wie in der Politik ja alles irgendwie einmal wieder gut gemacht werden können muss. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen wie ich immer sage und damit meine ich nicht die Zahlen, sondern ich meine die Fabrikation der Leichen.
Dieses hätte nicht geschehen sollen, da ist irgend etwas passiert
womit wir alle nicht mehr fertig werden.“
Über Eros und Tod // Über die Asiatische Grippe
Pandemie 1957
Als Junge von 13 Jahren besuchte ich gerne Westernfilme.
Total beeindruckt war ich einmal von einer Szene, wo ein alter Indianer zu seinen Feinden sagt: „Heute ist ein guter Tag zum Sterben.“
„Keine Angst vor dem Tod, weil der Tod sowieso kommt“, dachte ich, „also besser, an einem guten Tag sterben“.
Es war das Jahr 1957. Es herrschte die Asiatische Grippe.
Zu Hause sprach man ein bisschen darüber. Man hörte, dass Menschen daran starben, aber mein Vater ging zur Arbeit,
mein ältester Bruder zu einem jüdischen Buchhändler, wo er grad als Lehrling angefangen hatte und ich jeden Tag zur Schule.
Schlimmeres hörte man über Polio. Ein Freund bekam diese Krankheit und musste mit den Folgen leben.
In den Medien, wie Radio und Zeitung, wurde wenig darüber berichtet.
Das Sterben hatte etwas Alltägliches. Die Leichen wurden noch mit Leichenkutschen abgeholt. Ich höre noch immer die nach Schnaps riechenden Kutscher, den Pferden ihre Befehle gebend: Hü, Brrrrr.
Schräg gegenüber unserer Wohnung arbeitete der Sargbauer. Man hörte das Sägen und Hämmern hinter der verschlossenen Tür der Werkstatt. Meistens in der Dämmerung fuhr ein Pferdewagen vor und eine Reihe von Särgen wurde irgendwohin gefahren.
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Mein Großvater besorgte sich eines Tages eine alte Begräbniskutsche mit Engeln und allem denkbar barocken Firlefanz. Pechschwarz war das Ding angemalt.
Er ließ die Räder abmontieren und machte aus der Kutsche einen Hühnerstall.
Die Nachbarn lachten, aber seine Hühner gediehen sehr gut in diesem Ambiente.
Als Kind lebte ich in einer primären Welt, würde man heute psychologisch sagen. Hier war der Metzger, dort der Schneider und der Bäcker. Um die Ecke wohnte die Tante und zu Opa fuhr ich immer sonntags mit meinem Vater auf dem Solex.
Die Nachbarn kannten dich und du sie auch.
Der Drogist fragte immer wie es meiner Mutter geht und sagte, dass ich sie grüßen solle. Delft, wo ich geboren bin, war kein Dorf. Eine Kleinstadt.
Warum die Reaktion im Jahr 2020 auf das Corona-Virus so heftig ist, verglichen mit der Epidemie im Jahre 1957, ist eine Frage.
Vielleicht, weil unser Verhältnis zum Sterben, Leiden und Abbau des Körpers stärker als je zuvor mit Angst besetzt ist?
Mir kommt es fast so vor.
Wenn ich die Welt der Jahre 1950-60 vergleiche mit der Welt, in welcher wir jetzt leben, entkomme ich nicht dem Gefühl, dass wir in den letzten 75 Jahren die Verdinglichung des Menschen und der Natur noch einmal extra vorangetrieben haben.
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Ich meine damit die Ökonomisierung des Menschen und der Natur als Ressource, die man ohne Rücksicht auf ihr „Lebewesen“ ausnützen kann.
Erich Fromm charakterisiert dieses Problem sehr treffend indem er sagte, dass „…das Prinzip der Buchführung der Bilanz und des Profites, übertragen ist und sich ausgedehnt hat von der Wirtschaft zum menschlichen Leben. Der Mensch wird zu einem Unternehmen. Sein Kapital ist sein Leben…“ (1957)
Die nach zwei Seiten angestrebte Verdinglichung hat uns - meines Erachtens nach - weitgehend geistig und intellektuell in eine Isolation geführt.
Und Isolation führt zu Angst. Werner Fassbinder berührt dieses Thema in seinem Film „Angst essen Seele auf.“ (1974)
In diesen Tagen denke ich an Edith und Egon Schiele - den Maler und seine bezaubernde Frau. Schiele, geboren im südböhmischen Krumau. Wie seine Bilder von der „Grenzerfahrung zwischen Eros und Tod“ sprechen, berührt einen zu tiefst.
So weit ich habe nachforschen können, hat Egon Schiele noch bis kurz vor seinem Sterben an seinen Bildern, mit den Menschen als zentrales Thema, gearbeitet.
Edith starb am 28. Okt. 1918. Egon drei Tage später. Beide an der Spanischen Grippe.
Berlin Mai 2020.
Robert Hogervorst
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Gedichte
Am Tische saß ein Engel und schaute
Engel
Am Tische saß ein Engel und
schaute mich fast an.
In meine Hand er sprach:
„Hol Wasser aus dem Hahn.“
Ich stand auf,
die Türschwelle schien mir
viel zu hoch,
das Wasser lief nach oben.
Als ich war zurückgekehrt,
erschien, wo er gesessen,
ein dunkelblauer Regenbogen.
Schiffbruch
Schiffbruch
Unter meiner Haut
die Schiffbrüche Odysseus,
die Lieder der Peleponnes
und Athenes ewiger Blick.
Wie weit muss ich gehen,
bevor ich meine Schritte wieder höre,
die Lieder gesungen werden und das
Kraut der Berge meine Sinne beglückt.
Wer hat mir die Türen des
Heimkommens an sich gerissen.
Welche Versprechung wurde
nicht eingelöst.
Leer ist das Haus,
geschändet das Bett meiner Liebe.
Taub sind die Lieder,
Blind mir der Blick.
Der fahle Reiter
Der fahle Reiter
Achte auf deine Füße,
Tag und Nacht,
der Seele
heimliches Versteck.
Halbmenschen
zurren dich
an einem
fahlen Reiter fest:
Sein Atem
ist die Furcht.
Wehe dir,
wenn du dich entblößt.
In der Dunkelheit
erzähle ich dir von einst,
wenn Bergesluft
und Meeresrauschen,
Tier und Blitz
das Menschenherz
erfüllte.
Achte auf dich beim Gehen.
Achte auf deine Füße,
Tag und Nacht,
der Seele
heimliches Versteck.
Der Vater
Der Vater
Auf das Fenster
er seinen Atem hauchte:
Augenblickswesen
wie am ersten Tag.
„Malst du, bevor
du gehst, einen Bus mit
offenem Dach und
Mond und Sternen“,
sprach er,
der Knabe,
von Herz zu Herz.
Die Jahre vergingen,
Herbstregen fiel schräg
auf die Dächer.
Der Bus fuhr nur
noch abends.
Versteifte Finger berührten
das Fensterkreuz,
Atem streifte das Glas.
Er schrieb:
Ich bin der Mond,
ich bin die Sonne,
ich bin der Bus
mit dem offenen Dach.
Die Verfolgten
Die Verfolgten
Manchmal frage ich mich,
sind die Engel
noch immer tätig,
haben sie es
nicht aufgegeben, die
zersprengten Teile
der Erinnerung derjenigen,
die durch den
Zyklon-B Tod
ihr Ende fanden,
zusammen zu suchen.
Dass sie,
die so grausam starben,
dennoch im Seelenleib
erwachen können:
O unbeschreibliches Ereignis.
Es herrschte das Rudel
der Nicht-Menschen
zwölf lange Jahre über
das gesunkene
Europa.
Die Engel,
ich sehe ihre
tief hängenden Flügel und
ihren niedergeschlagenen
Blick.
Ihren Status haben
Sie abgegeben
an die Millionen,
damit die Bestohlenen
ihren Lebensfaden
wieder aufgreifen können.
Seitdem wandern
die von Gott Gesandten
ohne Flügel
unsichtbar unter uns.
Die Rose
Die Rose
Warum ist denn
die Rose dornig,
so duftig sie die
Liebe verspricht.
So sann das Kind
und zeigte
seine Wunde.
Die Mutter
hauchte seine Hände an
und schrieb unhörbar
diese Stunde,
mit leisem Lächeln,
in den Tageslauf
hinein.